Seeing like a feminist - Feminismus in Indien

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Quelle: Eigenes Foto

Über eine der letzten Fragen musste Nivedita Menon doch schmunzeln. Wer hätte gedacht, dass sich die jungen Frauen in Deutschland und Indien so ähneln sollten? In diesem Punkt könne man fast von einer „globalen Schwesternschaft“ sprechen:  Junge Frauen wollen heutzutage die Freiheiten, die ihnen der Feminismus in der Vergangenheit erkämpft hat, in vollen Zügen genießen, sehen sich selbst aber als unpolitisch an und empfinden die Bezeichnung als Feministin fast als ein Schimpfwort. Dabei kämpfen Feministinnen auch heute noch auf der politischen Ebene für die Rechte von Frauen.

Nivedita Menon lehrt Politische Theorie an der Universität Delhi und ist auf Einladung des Kollegs „Postwachstumsgesellschaften“ nach Jena gekommen. Sie stellte in ihrem Vortrag aus ihrem aktuelle Buch „Seeing like a feminist“ drei Ebenen der aktuellen politischen Auseinandersetzungen in Indien vor. Es sind Grenzbereiche, in denen auch für Feministinnen nicht klar ist, wie man die Interessen der Frauen angemessen vertreten soll. Wann sind Frauen Opfer und wann sind sie aktiv handelnde Personen? Haben Frauen in einer kapitalistischen Gesellschaft überhaupt eine freie Wahl, wenn ihre Optionen durch ihre ökonomischen Möglichkeiten begrenzt sind?

Dieses Spannungsfeld erkennt man gut an der Prostitution. Der bisherige Feminismus sah Prostitution als Gewalt gegen Frauen an, der weibliche Körper wurde durch Prostitution zur Ware gemacht. Eine Umfrage unter 3.000 Prostituierten in Indien ergab jedoch, dass 71 Prozent der Frauen sich willentlich in die Prostitution begeben und ihren Körper freiwillig zur Ware machen. Die meisten Frauen hatten zuvor in schlecht bezahlten Jobs in Fabriken gearbeitet und konnten nun in der Prostitution wesentlich besser verdienen. Andere gingen der Prostitution nur nebenberuflich  nach und seien hauptberuflich beispielsweise als Gemüseverkäuferin tätig. Doch wie geht der indische Feminismus mit solchen Erkenntnissen um?

Zunächst einmal sprach man nicht mehr nur von Prostitution, erklärte Menon, sondern auch von sogenannten Sex-Arbeitern. Dies entmystifizierte den Begriff Sex und trug der Tatsache Rechnung, dass die Frauen diese Arbeit selbst gewählt haben. Sie werden damit nicht mehr auf den Begriff der Prostituierten reduziert, sondern können, wenn sie beispielsweise noch einen anderen Beruf ausüben oder Kinder erziehen, auch noch andere Rollen in ihrem Leben haben. Auf der politischen Ebene ist der Umgang mit diesen Prostiturierten und Sexarbeiterinnen schwierig. Die Alternativen liegen zwischen einer Kriminalisierung und einem absoluten Verbot, um Frauen vor dieser Form der Selbstausbeutung zu schützen, und einer Entkriminalisierung, um den Blick des Staats aus dem selbstbestimmten, privaten Lebensbereich der Frauen rauszuhalten.

Ein ähnliches, allerdings neueres Phänomen ist das kommerzielle Austragen von fremden Kindern. In den letzten zehn Jahren entstand in Indien ein Markt dafür, dass kinderlose Paare Frauen bezahlen, um Kinder für sie auszutragen. Meist stehen sich auf diesem Markt sehr arme Frauen und reiche Paare aus der ersten Welt gegenüber. Der Markt ist zwar auch staatlich reguliert, allerdings ohne die Rechte der austragenden Frauen zu berücksichtigen: Wichtig seien laut Menon nur die zahlenden Käufer und die beteiligten Ärzte. Die Frauen werden in den dazugehörigen Verträgen nur als „Humaninkubator“ oder „mütterliche Umgebung“ erwähnt.

Die Körper der Frauen werden auch hier zur Ware gemacht – allerdings auch in diesem Fall auf deren eigenen Wunsch. Erste Studien haben auch ergeben, dass die Frauen nicht nur willenlose Inkubatoren fremder Kinder sind, sondern sich ihrer Rolle bewusst sind. Die Frage, wie man als Feministin die Rechte dieser Frauen vertreten kann, ist für Menon noch schwerer zu beantworten als bei der Prostitution. Die austragenden Frauen sind bisher nicht an die Öffentlichkeit getreten, was die Voraussetzung wäre, um ihre Interessen adäquat vertreten zu können. Das ist allerdings auch in der Zukunft wenig wahrscheinlich, da sie oftmals sehr arm und durch ihre Tätigkeit stigmatisiert sind.

Auch die Frage der Abtreibung beinhaltet für Feministinnen in Indien mittlerweile ein „unauflösbares Dilemma“, wie Menon es nennt. Das Recht auf Abtreibung wird von Feministinnen weltweit positiv als Recht der Frau auf Selbstbestimmung über ihren Körper verstanden und dementsprechend verteidigt. In Indien ist die Abtreibung unter medizinischer Indikation seit 1971 legal. Seit den 1980er Jahren wurden jedoch nach pränatalen Geschlechtstests zunehmend weibliche Föten abgetrieben. Eine Möglichkeit, die ursprünglich der Selbstbestimmung der Frau dienen sollte, wurde hier pervertiert, um Frauen zu diskriminieren.

Welches Recht wiegt hier für Feministinnen höher: Das Recht der ungeborenen Frau oder das der abtreibenden Frau? Feministinnen wollen daher in Indien das Recht der Frauen auf Abtreibung verteidigen und zugleich die Abtreibung von weiblichen Föten durch ein Verbot von pränatalen Geschlechtstests verhindern. „Wir bewegen uns auf des Messers Schneide“, erklärte Menon, eine einfache Lösung dieses Dilemmas sei nicht in Sicht.

Aus dem Publikum kam aber auch die Frage, inwieweit sich überhaupt etwas durch ein Verbot der pränatalen Geschlechtstests ändern ließe. Das Problem der Abtreibung von weiblichen Föten sei doch eher ein Symptom für die Frauenfeindlichkeit in der indischen Gesellschaft. Dem stimmte Menon zu, sie sehe das auch so – doch das sei in Indien nicht die gängige Meinung unter Feministinnen. Frauen würden vielmehr bei dieser Entscheidung als Opfer des Patriarchats gesehen, daher müsse verboten werden, sie überhaupt erst in die Lage zu bringen, diese Entscheidung zu treffen.

Inwieweit diese Dilemmata des indischen Feminismus auch auf Deutschland übertragbar seien, wurde ebenfalls diskutiert. Die Moderatorin Ina Kerner, Professorin an der Humboldt-Universität Berlin, merkte an, dass es zumindest bei dem ersten Punkt Überschneidungen des deutschen und des indischen Feminismusdiskurses gebe. Auch in Deutschland habe es in den letzten Monaten eine durch Alice Schwarzer ausgelöste, ausgiebige Debatte über die Prostitution gegeben. Die anderen beiden Dilemmata sind in Deutschland für den Feminismus hingegen kaum bekannt und auch nur wenig relevant.

Aber könne man nicht wenigstens globale Kernpunkte entwickeln, was den Feminismus ausmache, fragte eine Frau aus dem Publikum. Das verneinte Menon: Solche Kernpunkte könnten in ihren Augen die unterschiedlichen Probleme in den verschiedenen Ländern gar nicht abbilden. Vielmehr wäre die Gefahr groß, dass sie zu einer Radikalisierung führen würden. Ein Unterschied zwischen den Ländern sei beispielsweise, dass Geschlecht in vielen Ländern nur ein Aspekt von Benachteiligung neben anderen sei. Eine muslimische Frau, die auf einem Flughafen kontrolliert werde, werde dies beispielsweise nicht auf ihr Geschlecht, sondern auf ihre Religion zurückführen. Der Feminismus sollte sich in diesem Sinne an den unterschiedlichen Lebenswelten der Frauen orientieren.

Man könne aber zugleich auch viel lernen durch den Dialog mit Feministinnen anderer Länder: Menon habe beispielsweise erfahren, dass das Thema einer Frauenquote in Deutschland eine wichtige Frage für Feministinnen sei. Und eben auch, dass die jungen Frauen in Deutschland erstaunlich ähnlich auf den Feminismus schauen, wie die jungen Frauen in Indien.