Von Heidelberg bis Jena: Mehr Beteiligung durch Vorhabenlisten und Leitlinien?

Der klassische Ablauf in der Verwaltung und der Politik ist oft so: Eine Frage wird intern beraten, eine Lösung beschlossen und dann der Öffentlichkeit verkündet. Doch was passiert danach? Dann formiert sich Widerstand bei den Betroffenen und der Beschluss muss von Verwaltung und Politik eisern verteidigt werden. Und in diese Verteidigung fließt dann die meiste Energie des gesamten Prozesses.

In Heidelberg wird dies seit mehr als zwei Jahren anders gemacht. Dort hat der Gemeinderat Leitlinien für die Beteiligung der Bürger an den Entscheidungsprozessen der Stadt beschlossen, erklärte Frank Zimmermann, der Leiter der Koordinierungsstelle Bürgerbeteiligung in Heidelberg. In den Jahren 2008 und 2010 hatte es in Heidelberg zwei Volksentscheide gegeben, in denen zwei von Politik und Verwaltung geplante Projekte gekippt worden waren. Nach den Volksentscheiden begann man sich in der Politik zu fragen, wie es sein konnte, dass Projekte, die von einer Zwei-Drittel-Mehrheit im Gemeinderat getragen wurden, so sehr am Willen der Bevölkerung vorbei gingen. Deshalb setzte man 2011 eine Arbeitsgruppe ein, die Leitlinien für eine stärkere Beteiligung der Bürger entwickeln sollte. Im Frühjahr 2012 wurde der Entwurf für die Leitlinien mit Bürgern, Politik und Verwaltung diskutiert. Im Juli 2012 wurden die Leitlinien dann einstimmig durch den Gemeinderat angenommen.

Das Herzstück dieser Leitlinien ist die sogenannte Vorhabenliste. Die Verwaltung benennt darin die Vorhaben, die in der kommenden Zeit durch die Stadt umgesetzt werden sollen. Die Vorhaben müssen mindestens drei Monate vor der Erstberatung in den Gremien in dieser Liste im Internet veröffentlicht werden. Die Bürger können basierend auf diesen Vorabinformationen eine stärkere Beteiligung an den städtischen Projekten einfordern. „Das geschieht allerdings eher selten,“ sagt Zimmermann. „Die Verwaltung sagt in 98 Prozent der Fällen bereits vorausschauend: ‚Da brauchen wir Beteiligung!‘“

Etwa bei einem Drittel der Projekte, die auf der Vorhabenliste stehen, finde dann auch eine Beteiligung der Bürger statt. Diese wird von den Projektleitern in der Verwaltung koordiniert: Sie müssen sich darum kümmern, dass die Interessen aller beteiligten Gruppen in den Beteiligungsprozess einfließen. Die Form der Beteiligung wird dann mit den Interessengruppen in einem eigenen Beteiligungskonzept festgelegt, das auch vom Gemeinderat beschlossen werden muss.

Die Formen der Beteiligung sind in den Leitlinien nicht vorgeschrieben – sie sollten allerdings dem Anlass entsprechen: Das kann von einer einmaligen Abendveranstaltung mit den Interessengruppen über sogenannte „prozessbegleitende Arbeitsgruppen“ bis zu einem „Koordinierungsbeirat“ gehen, der bei sehr strittigen Projekten eingesetzt wird. Die Kosten für die Beteiligung tragen die Fachbereiche der Verwaltung.

Die Beteiligung findet dann – dem Beteiligungskonzept entsprechend – über alle Planungsphasen des Projekts hinweg statt. Der Gemeinderat erhält die Sicherheit, dass sich die Beteiligten bei der Planung an die gesetzlichen Rahmenbedingungen und an den Zeit- und Kostenrahmen halten. Die Interessengruppen und die beteiligten Bürger erhalten die Garantie, dass der Gemeinderat nichts vor Beendigung des Beteiligungsverfahrens beschließt. Am Ende des Beteiligungsverfahrens werden dem Gemeinderat die Ergebnisse präsentiert. Der Rat ist damit jedoch nicht auf eine Entscheidung zugunsten der Ergebnisse festgelegt – er muss es allerdings begründen, wenn er eine abweichende Entscheidung trifft. Das sei allerdings erst einmal der Fall gewesen, erklärt Zimmermann. In diesem Fall hätte man aber auch einen Kompromiss gefunden.

Die bisherigen Erfahrungen mit den Leitlinien sind sehr gut. Das zeigte die Evaluation, die die Stadt im Jahr 2014 mit allen Beteiligten durchgeführt hatte. Der Gemeinderat fühlte sich durch die Liste gut informiert und sah darin die Chance mitzubekommen, was die Büger wollen. Es gab allerdings auch kritische Stimmen, die Angst hatten, ihre Macht und ihren Einfluss zu verlieren. In der Verwaltung gab es eher die Sorge, dass die Bürgerbeteiligung mit einem hohen Aufwand verbunden sei und es dadurch zu zeitlichen Verzögerungen bei Projekten kommen könnte. Es wurde allerdings auch der interne Vorteil gesehen, dass man sich in der Verwaltung frühzeitiger abstimmen müsste. Wichtig sei auch, dass durch die Bürgerbeteiligung Konflikte frühzeitiger offengelegt und bearbeitet werden können. Die Bürger sahen in einer repräsentativen Umfrage die eingeführten Leitlinien und die Möglichkeit zur Beteiligung in städtischen Entscheidungsprozessen sehr positiv. Das Verhältnis von Politik und Bürgern habe sich gebessert, meinten etwa 92 % der Befragten. Allerdings, so konstatierten auch einige Politiker, sei das Verhältnis durch die hohen gegenseitigen Transparenz- und Zusammenarbeits-Erwartungen auch enttäuschungsanfälliger, wenn etwas nicht funktioniere.

Als Ergebnis der Evaluation in Heidelberg zeigte sich, so Zimmermann, „dass Schlüsselpersonen in die Prozesse dauerhaft eingebunden und Multiplikatoren besser identifiziert werden sollten.“ Außerdem sollten nicht alle Beteiligten immer zwingend einen Konsens der Interessen erwarten. Die Verwaltung  und die Politik müssten zudem in vielen Fragen auch Mut zur Lücke haben. Bürger könnten nämlich nur dann beteiligt werden, so Zimmermann, wenn es nicht schon auf alle Fragen Antworten gebe. "Bürgerbeteiligung funktioniert nur als offener Prozess", diesen Lehrsatz wiederholt Zimmermann fast schon gebetsmühlenartig.

In der Evaluation wurde auch die Nutzung der Vorhabensliste ausgewertet: Sie wurde im Jahr 2013 3000 mal von 1600 verschiedenen Nutzern angeklickt – 30000 Seiten wurden von diesen angeschaut. Bei einer Bevölkerung von 160000 Einwohnern ist das nur ein sehr geringer Prozentsatz. „Repräsentativität ist kein Kriterium für uns,“ erklärt Zimmermann. Wichtig sei vielmehr die Frage, ob alle erkennbaren Interessen am Entscheidungsprozess beteiligt seien.

Auch in Thüringen wird mittlerweile über die Einführung solcher Leitlinien für Bürgerbeteiligung nachgedacht. In Jena wurde im Jahr 2014 ein Beschluss zur Bebauung der Innenstadt, der für den Stadtrat und den Bürgermeister zentral war, durch einen Bürgerentscheid abgelehnt. Nach dieser Erfahrung will der Stadtrat die Bürger nun stärker beteiligen und dafür Leitlinien entwickeln. Der Zeitplan ist ambitioniert: Ab März 2015 soll eine Vorhabenliste wie in Heidelberg die Bürger informieren. Bis Herbst 2015 sollen die Leitlinien durch eine Arbeitsgruppe erarbeitet werden und im Jahr 2016 in einer Satzung verabschiedet werden.

„Der Prozess der Einführung der Leitlinien, ist genauso wichtig, wie die Leitlinien selbst,“ betont Frank Zimmermann. Denn, wie solle die Bürgerschaft etwas tragen, bei dem sie selbst kein Mitspracherecht hatte. Oft werde er angerufen und gefragt, ob man die Leitlinien aus Heidelberg einfach übernehmen könne. Das ginge allerdings nicht – die Leitlinien müssen immer auf die jeweiligen Beteiligungsmöglichkeiten der Stadt abgestimmt sein. Der größte Fehler bei der Einführung sei es, wenn Leitlinien für Bürgerbeteiligung eingeführt werden, erklärt Zimmermann, aber von Politik und Verwaltung nicht ernst gemeint seien.

Das war in Leipzig der Fall: Dort wurden früher als in Heidelberg Leitlinien für Bürgerbeteiligung entwickelt. Allerdings wurden sie nicht in einer Satzung beschlossen, sondern vom Oberbürgermeister dem Stadtrat nur zur Information gegeben. Die Leitlinien stehen seitdem nur auf dem Papier und die Frage ist, wie sie wiederbelebt werden können. Nach dieser Erfahrung hatte man bei der Einführung in Heidelberg darauf geachtet, dass die Leitlinien auch in einer Satzung fest verankert werden.

Seit der Einführung der Leitlinien sieht der neue Ablauf Heidelberg so aus: Gemeinsam werden Ideen gesammelt und diskutiert, der Gemeinderat beschließt sie und dann werden sie gemeinsam umgesetzt. In Heidelberg fließt seitdem nicht mehr die meiste Energie in die Verteidigung der Beschlüsse, sondern in die gemeinsame Entwicklung und Umsetzung.