Ein Weg zu einer anderen Welt

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Quelle: Wikipedia Commons

Über das Weltsozialforum, Demokratisierungsprozesse in Afrika und Hoffnung angesichts von Krisen

Das kommende Weltsozialforum (WSF) findet vom 26. bis 30. März 2013 in Tunesien statt – und damit zum vierten Mal in Afrika und jenseits der Debatten über die europäische Finanzkrise. Das WSF wird oft noch als Gegenveranstaltung zum Weltwirtschaftsforum betrachtet, doch es war schon immer mehr. Das Forum fördert die lokale Zivilgesellschaft und fordert deren offenen, inklusiven und friedlichen Charakter.

Auch wenn das Forum ein wichtiger Schritt auf dem Weg hin zu einer globalen Zivilgesellschaft ist, so ist die Verständigung noch lange nicht global. So werden sich in Tunesien globale SystemkritikerInnen und AktivistInnen des Arabischen Frühlings begegnen. Säkulare Ideen und Feminismus treffen auf den politischen Islam. Dass das Forum sich dieser Ambivalenz stellt und wie es sich mit dieser Herausforderung auseinandersetzt, ist dennoch beispielhaft im Vergleich mit anderen „globalen” Diskursen oder internationalen Organisationen. Im Grunde ist dies auch eine Antwort auf die beständige Frage, „was das Forum eigentlich will“: Es will einen Prozess möglichst demokratisch begleiten oder gar moderieren.

Das nachfolgende Interview zeigt Auszüge eines Gesprächs mit Chico Whitaker, einem der Mitbegründer des Weltsozialforums. Es entstand am 11. Februar 2011, auf dem letzten Weltsozialforum in Dakar, Senegal – unter dem Eindruck der zeitgleichen Umbrüche in Tunesien und Ägypten und einer sich ausweitenden Finanzkrise.

 

Lieber Chico, wir befinden uns auf dem Weltsozialforum 2011 in Dakar. Vor wenigen Tagen gab es erste Erfolgsmeldungen aus Tunesien. Das Gerücht, dass Mubarak Ägypten verlassen habe, hat heute das Forum elektrisiert. Welche Bedeutung haben solche Ereignisse, wenn wir über die Zukunft des Forums sprechen?

Es gibt einen inneren Lernprozess seit dem ersten Forum. Doch auch die Welt hat sich extrem gewandelt. Das müssen wir berücksichtigen, wenn wir über die Zukunft des Forums nachdenken. Gleichzeitig ist diese Welt und ihr Wandel nicht einheitlich. Nehmen wir das Beispiel Tunesien oder Ägypten: Was wollen diese Menschen? Sie fordern schlicht das Recht, ihren Präsidenten oder ihre Regierung wählen zu dürfen. Die Regierung, die sie zuvor hatten, hat ihre Probleme nicht gelöst. Sie hoffen jemanden wählen zu können, der Ihnen hilft Lösungen zu finden. Aber das ist bloß ein erster Schritt auf dem Weg, wohin sie wirklich wollen. Denn selbst wenn sie jemanden wählen würden, der sich ehrlich der Lösung ihrer Probleme widmet, bleibt ungewiss, ob er die Probleme auch lösen kann.

Auch hier auf dem Forum gab es seit seiner Gründung intensive Debatten über die Notwendigkeit die Macht zu ergreifen, und dass das Forum nicht zielführend sei. Aber welche Macht? Die politische Macht – das wäre vielleicht möglich, zumindest in einem Land. Aber wie übernimmt man die globale politische Macht? Wie übernimmt man ökonomische Macht? Wie entgeht man einer kulturellen Herrschaft? Ohne Zweifel ereignet sich in Tunesien jetzt ein Umbruch. Aber allein die Wahlen ändern noch nicht die Situation der Menschen dort. Und die Situation in Indien, Japan oder hier im Senegal ist schon wieder eine ganz andere. Dennoch versucht das Forum auf all diese Prozesse eine Antwort zu geben.

Als das Weltsozialforum 2001 gegründet wurde, standen wir der Haltung gegenüber, „There is no Alternative“, wie Margaret Thatcher sagte. All unsere Probleme wären durch Marktmechanismen zu lösen. Oder, wie Francis Fukuyama gar behauptete, wir seien am „Ende der Geschichte“ angekommen. Es würde sich nicht mehr lohnen, andere Sozialstrukturen oder ökonomische Modelle in Betracht zu ziehen. Der Markt und der Kapitalismus regeln alles. Doch offensichtlich waren die Menschen dieses Modells überdrüssig und mit der Situation unzufrieden. Die globale Zivilgesellschaft begann sich zu organisieren, und es fanden Veranstaltungen wie die in Seattle statt. Sie offenbarten die Ratlosigkeit der Leute ebenso wie deren Potenzial für soziale und politische Veränderungen. Und für uns, die Gründer und Gründerinnen des Forums, ergab sich die Chance zu sagen: „Was wir in diesen Zeiten brauchen, ist Hoffnung!“ Und diese Hoffnung inspirierte die Idee eines riesigen Treffens. Folglich mussten wir überlegen, wie wir uns begegnen wollen. Die Regeln und Art und Weise des Treffens waren der entscheidende Diskussionspunkt zu Beginn. Wir stellten uns ein Plenum vor, auf dem jede und jeder sagen kann, was sie oder er möchte. Auf diese Weise würden wir voneinander lernen, gemeinsam handeln und Gemeinsamkeiten aufbauen. Da wir viele, und sehr unterschiedliche Menschen waren, war es notwendig, diese Heterogenität zu respektieren.

Noch eine weitere Erfahrung prägte dieses erste Treffen. Die Leute spürten, dass sie gemeinsam stark waren. Doch damit einher ging auch das Bewusstsein, dass wir zuerst tragfähige Beziehungen aufbauen müssen. Weder wir noch die Welt sind schon für einen Wandel bereit, aber „eine andere Welt ist möglich.“

 

Wie steht das Forum mit der lokalen Zivilgesellschaft und Demokratisierungsprozessen wie in Tunesien und Ägypten in Beziehung?

Um ehrlich zu sein, sind dies zwei verschiedene Dinge. Die Wahl des Ortes ist eine lokale Entscheidung, es ist nicht der internationale Rat des Forums (IC), der eine strategische Entscheidung trifft. Der Vorschlag oder Wunsch ein Forum durchzuführen, geht von den lokalen Organisationen und Bewegungen aus. Letztlich aber sind es die lokalen Akteure, die das jeweilige Forum organisieren und gestalten – es braucht bereits einen Prozess vor Ort. Das heißt, der Prozess des Forums ereignet sich parallel zu dem, was in den einzelnen Ländern geschieht. Der Einfluss des Forums liegt in dessen Idee, aber auch der Hoffnung und Aufmerksamkeit, die er den dortigen Organisationen verleiht.

Findet es statt, ist das Forum ein Lernraum für Demokratie, ohne Hierarchien und Autoritarismus. Das lässt sich auch anhand von Kleinigkeiten in der Vorbereitung und Organisation dieses Forums feststellen. Solch eine Erfahrung zu machen, ist ein Schritt, um das Bewusstsein und autoritäre Entwicklungsprozesse zu verändern. Außerdem ist das Forum ein Ort, um Netzwerke zu bilden, ein Ort des Austauschs von Wissen, Erfahrungen und Kompetenzen, der Vermittlung praktischer Kenntnisse sowie der Unterstützung von Leuten, die sich in sozialen Kämpfen engagieren.

 

Wie wirkt sich das Forum auf die institutionelle Politik aus? Gerade in Brasilien, wo es gegründet wurde, wird ihm ein maßgeblicher Einfluss zugesprochen.

Gewiss beeinflusste das Forum damals 2002 die Wahl des Präsidenten Lula. Nicht direkt, aber indem es den sozialen Kämpfen und Organisationen neue Hoffnung brachte. Allerdings wurde Lula nicht nur durch die von den Organisationen und Bewegungen ausgehenden Kräfte gewählt. Im Gegenteil, er wurde ja gerade gewählt, weil er Zugeständnisse an das System machte. Die regierende Arbeiterpartei hat denn auch unter Lula die Idee struktureller Veränderungen vollkommen aus dem Blick verloren und agiert wie eine Firma, die ein Land ökonomisch zu optimieren sucht.

Ich erzähle dies, um zu veranschaulichen, dass das Forum in einem Zusammenhang mitspielt, bei dem viele andere Faktoren eine Rolle spielen und der eine eigene Dynamik besitzt. Ein weiteres Beispiel ist das WSF in Senegal: Zur Eröffnung hat Lula ein extrem konservatives, kapitalistisches Agrarmodell für Afrika vorgeschlagen. Der senegalesische Präsident Abdoulaye Wade hat uns mit den Worten begrüßt: „Ich bin gegen euch.“ Auf deren Haltung hat das Forum keinen Einfluss.

Ein anderes Beispiel ist die Revolution in Tunesien und Ägypten. Dort hatte das Forum keinerlei direkten Einfluss – zumindest bis jetzt nicht. Was die Menschen dort empörte, war einerseits die Korruption, das Fehlen eines Mindestmaßes an Demokratie und die Ignoranz gegenüber ihren Problemen. Der Auslöser war ein Jugendlicher der Mittelklasse ohne Perspektive. Was hat das mit dem Forum zu tun? In dem Maße, in dem Leute an einem Forum teilnehmen, lernen sie sich über das gegenwärtige System und die Welt, wie sie heute ist, zu empören. Sie sehen, dass es andere Möglichkeiten und unterschiedliche Modelle gibt. Außerdem zeigen wir, dass Demokratie notwendig ist. Andererseits muss das Forum selbst aus solchen Ereignissen lernen, dass eine Gesellschaft, die bereit für die Revolution ist, sich von selbst auflehnt. Unsere Aufgabe kann nur die Vorbereitung oder Unterstützung sein.

 

Wie hat sich die Welt, der Kontext des Forums, seit seiner Gründung verändert? Wie sollte das WSF darauf reagieren?

Von der Perspektive der sozialen Kämpfe ausgehend, gab es bedeutende Veränderungen. Eine davon ist das wachsende ökologische Bewusstsein. Die ökologischen Probleme stehen weltweit im Fokus vieler Debatten. Es gab politische Errungenschaften wie in Lateinamerika. Bolivien und Ecuador haben etwa das Konzept des „guten Lebens“ in die Verfassung aufgenommen. Das sind große Schritte, die jedoch in der Praxis noch nicht umgesetzt werden. Und obwohl viele Leute auf der Welt der Ansicht sind, dass wir unseren eigenen Planeten zerstören, versuchen wir weiterhin, dem Klimawandel mit Marktmechanismen zu begegnen.

2008 kollabierte das Finanzsystem. Manche Leute hier behaupteten, das sei das Ende des Kapitalismus. Meiner Ansicht nach hatten und haben wir viele und schwerwiegende Krisen, wie etwa die Hungerkrise. Aber nun spricht die Welt von „der“ Krise und sei es nur durch das Eingeständnis, dass der Markt letztendlich weder im Stande ist seine eigenen Probleme noch die der Menschen zu bewältigen. Aber wie wurde diese Krise überstanden? Die Banken erhielten Geld, und viele Menschen verloren ihren Arbeitsplatz. Einerseits ist die Situation schlimmer als vor der Krise. Andererseits ist das System nun nicht mehr so selbstsicher. Zugleich aber müssen wir eingestehen, dass es im Großen und Ganzen noch nicht kollabiert ist und noch keine neuen Wege eingeschlagen hat.

Vor diesem Hintergrund sprechen wir über die Zukunft des Forums und über die aktuellen Debatten hier. Seit der Gründung des Forums haben wir die Erfahrung gemacht, dass bei aller Vielfalt und Offenheit unser Zusammenhalt und unsere Einheit unerlässlich sind. Dieser Zusammenhalt wurde noch nicht überall erreicht. An manchen Orten ringen wir selbst immer noch um verschiedene, konkurrierende Ideologien. Sind wir selbst schon stark genug, um die Ideen der Anderen jenseits des Forums wirklich in Frage zu stellen Haben wir die weltweit herrschenden Logiken bereits verändert? Nein. Solange uns das nicht gelingt, ist das Weltsozialforum notwendig.

Auf dem ersten Forum hat jede Organisation ihr eigenes Seminar angeboten. Inzwischen veranstalten zehn und mehr Organisationen gemeinsam Veranstaltungen. Das zeigt, dass das Forum seinen Sinn erfüllt. Ich habe in den letzten Jahren erlebt, wie sich starke und tiefgreifende Übereinstimmungen herausbilden. Aber wir brauchen mehr solcher Räume weltweit, wo Menschen den Glauben finden, dass es möglich ist, diese Welt gemeinsam zu gestalten.

 

Übersetzung: Benjamin Bunk, Katiuscia Dier Francisco, Anna-Maria Krüger.

 

Zur Person: Francisco „Chico“ Withaker Ferreira ist Befreiungstheologe und einer der Begründer des Weltsozialforums, wofür er 2006 den alternativen Nobelpreis erhalten hat. In den 1980er Jahren war er Geschäftsführer der Kommission für Gerechtigkeit und Frieden der brasilianischen Bischofskonferenz, später als Politiker der brasilianischen Arbeiterpartei aktiv und u.a. Mitglied im World Future Council.