Utopisches Plädoyer für eine Europäische Republik

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Michael Wohlgemuth, Ulrike Guérot und Henry Bernhard (v.l.n.r.)

Eine Utopie zu schreiben, ist erst einmal rechtfertigungsbedürftig. Das musste Ulrike Guérot bei der Diskussionsveranstaltung zu ihrem Buch „Warum Europa eine Republik werden muss!“ erfahren. Guérot ist Politikwissenschaftlerin und war viele Jahre als Beraterin an der Politik der Europäischen Union beteiligt.

Dabei hat Guérot die Utopie bewusst gesetzt: Eine Gesellschaft müsse wissen, wohin sie wolle, erklärt sie. Und dafür könne eine Utopie schließlich den Weg weisen. Allerdings, und das betont sie immer wieder, wolle sie nicht morgen schon im Sandkasten eine EU-Republik bauen, sondern erst einmal die strukturellen Probleme für die Bürger systematisch beleuchten.

Prof. Dr. Michael Wohlgemuth hatte an der Idee einer Utopie deutliche Zweifel. Er ist Volkswirt und Direktor der Open Europe Berlin gGmbH. Utopien spielen in seinen Augen nicht zufällig so oft auf Inseln. Dort sei man noch autark und identitär. Er sehe bei einer Utopie grundsätzlich die Gefahr, dass man zurück zu einer goldenen alten Zeit wolle, in der man noch abgeschlossen von der Gesellschaft und der Moderne war.

"Eine Gesellschaft müsse wissen, wohin sie wolle."

Dabei waren sich beide in der Analyse einig: Europa ist in der Krise. Für Guérot ging die Idee von Europa endgültig auf dem EU-Gipfel im Juni 2012 verloren. Dort wurde die Idee einer Währungs- und einer politischen Union in ihren Augen endgültig begraben. Sie hatte das Gefühl eines Risses und war voller Wut. Das sei der Impuls zum Schreiben des Buches gewesen.

In ihrer Analyse stellte sie fest, dass im Juni 2012 nur offenbar wurde, was schon lange versäumt worden war. Anfangs sei in der EU klar gewesen, dass man eine Währungsunion nicht ohne eine politische Union machen könne. Doch diese Zielsetzung ging über die Zeit verloren – zum einen durch die Erweiterung der EU und zum anderen durch den Krieg in Serbien. Es habe allerdings eine Schonfrist bis zur Bankenkrise gegeben. Jetzt bekämen wir die Quittung, für das was politisch nicht umgesetzt wurde: „Wir wissen nicht mehr, warum wir das wollten.“

„Aber, wer wollte das eigentlich?“ entgegnet Wohlgemuth skeptisch. Wollten das wirklich die Bürger? Die EU hatte zwar den „Plan D für Demokratie, Dialog und Diskussion“ entwickelt, demzufolge die Bürger zum Verfassungsvertrag befragt werden sollten. Doch dann stimmten die Niederländer und die Franzosen im Jahr 2005 dagegen. Nach dieser Erfahrung wurde dann doch der ursprüngliche Plan durchgesetzt: Der Vertrag wurde umbenannt und durch den Europäischen Rat beschlossen. Die Bürger wurden nicht mehr gefragt. Die Logik dahinter sei gewesen: Jetzt machen wir erstmal die Währungsunion, die politische Union sei ja gerade nicht durchsetzbar. Nach einer Weile werde dann alles andere zwangsläufig und alternativlos kommen. Das sei „fiese Politik“ gewesen.

Die EU habe ganz klar ein Demokratiedefizit, stellt auch Guérot fest. Wenn man  demokratietheoretische Grundsätze an die EU anlegen würde, würde man feststellen, dass die EU nicht demokratisch ist. In der EU komme die Macht vor dem Recht. Momentan habe Deutschland die Macht und das werde in den anderen Ländern kritisch gesehen. In der Flüchtlingskrise werde dies auch daran deutlich, dass die EU kein Recht mehr setzen könne. Dieses Rechtsetzungsproblem führe zu der Frage: Wer ist in der EU eigentlich souverän? Die Nationalstaaten oder die EU? Es könne, laut Guérot, keine zwei Souveräne geben.

"Europa ist in der Krise."

 

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Basierend auf diesen Überlegungen sei sie zurückgegangen und habe geschaut, wie es eigentlich zur Souveränität komme. Die Souveränität werde vom Volk in einem fiktiven Akt auf die Regierung übertragen. In ihrer Utopie können die Bürger ihre Souveränität nun auch wieder erlangen: "Die Bürger holen sich die Souveränität von den Regierungen zurück und gründen eine Republik." Sie würden dabei eine Europäische Republik gründen – und eben keinen Europäischen Nationalstaat.

Bei der Analyse der Probleme der EU stimmt Wohlgemuth auch zu – nur bei der Lösung gebe es einen Dissens. Er wolle die Probleme in dem gegebenen Rahmen lösen und nicht die Nationalstaaten abschaffen. Utopisch sei es doch, sich vorzustellen, dass die Franzosen, die so stolz auf ihre Nation sind, dem zustimmen. Es gebe zwar Kritik an der EU, aber keinen Bürgerwillen zur Auflösung der Nationalstaaten.

Sie nehme diesen Bürgerwillen schon verstärkt wahr, erklärte Guérot. All die zivilgesellschaftlichen Akteure, die sie kontaktieren und denen sie ihre Ideen vortrage, seien schon ein Beweis, dass es ein Bewusstsein für die Krise gebe. Die Frage wäre nur, wann der Widerstand auf die Straße komme. In Deutschland sei man noch weitestgehend gefeit gewesen vor den Folgen der Krise. Weite Teile Deutschlands und die veröffentlichte Meinung hätten keine Ahnung davon, was diese Krise in den anderen Ländern ausgelöst habe.

Die Nationalstaaten stellen in ihrer Analyse eines der größten Probleme Europas dar. Diese hätten systembedingt kein Interesse daran, Europa zu machen – denn dann würden ja viele Beamte ihre Jobs verlieren. Dabei sind die Nationalstaaten nur menschengemacht, die Grenzen wurden oftmals willkürlich gezogen. Wenn man beispielsweise in Tirol sei, dann erfahre man, so Guérot, dass die nationalstaatliche Grenze nur eine Fiktion sei. Viel wichtiger sei die Region, in der die Menschen leben. Es gebe in ihren Augen in Europa eine starke regionale Tendenz, weil Regionen Identität geben können, ganz im Gegensatz zum Nationalsstaat. Daher wolle sie den Regionen die konstitutive Macht in Europa geben.

Wohlgemuth sieht das kritisch: Wenn es anfangs ein europaweites Referendum gebe, in dem beschlossen werde, die Republik einzuführen, was geschehe dann mit Regionen, die da nicht mitmachen wollen? Insofern sei der Vorschlag zwar nicht totalitär, aber doch anmaßend. Besonders auch, da Guérot in ihrer europäischen Republik auch vorgeben wolle, welche Sozialpolitik gemacht werden soll. Es solle ja beispielsweise das gleiche Bürgergeld, die gleichen Steuern und das gleiche Renteneintrittsalter für alle Bürger geben. Und das unabhängig davon, wie hoch die Produktivität oder die Lebenshaltungskosten in den einzelnen Ländern seien. Er wirft Guérot daher vor, dass sie nicht nur die Nationalstaaten auflösen, sondern einen gesamteuropäischen protektionistischen Wohlfahrtsstaat gleich mit begründen wolle.

"Dabei sind die Nationalstaaten nur menschengemacht, die Grenzen wurden oftmals willkürlich gezogen."

Gerade dies sei ihr aber wichtig gewesen, erklärt Guérot, dass für die Bürger alle Dinge gleich seien. Es sei ein besonders dramatisches Zeichen der Krise der letzten Jahre gewesen, dass die Sozialstaatsmodelle der verschiedenen Länder gegeneinander ausgespielt worden seien. So wurden beispielsweise die griechischen Renten gegen die deutschen Renten ausgespielt. Dem wolle sie durch die Gleichheit der Bürger entgegenwirken. Für Unternehmen müsse man diese Gleichheit allerdings nicht schaffen: Diese können von den Regionen weiterhin unterschiedlich besteuert werden.

Doch wo solle das Geld für eine solche Umverteilung herkommen, zweifelt Wohlgemuth weiter. Und wieso sollten die reichen Regionen da mitmachen?

Stabilität koste eben Geld, erklärt Guérot. Einige Bürger würden klug genug sein, auf Privilegien zu verzichten und dadurch Stabilität zu erreichen. Außerdem werden in Deutschland Unterschiede ebenfalls abgepuffert, beispielsweise durch den Länderfinanzausgleich. Dabei habe niemand in Deutschland im 19. Jahrhundert daran geglaubt, dass Saarländer und Sachsen gleiche Bürger sein könnten. Das war utopisch. Man müsse sich nur anschauen, welche Probleme und Befürchtungen es bei der Einführung der Sozialversicherungen unter Bismarck gegeben habe.

Guérot plädiert daher dafür, dass Utopien auch wahr werden können. Von dem, was werden kann und wird, hätten wir heute noch keine Ahnung. Wer hätte beispielsweise gedacht, dass die Mauer fallen würde? Manchmal passiere Geschichte einfach: „Und wenn das Fenster der Geschichte aufgeht, dann sollten wir schon einen Plan haben.“