Torgau - Schlussstein der DDR-Jugendhilfe

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Quelle: Eigenes Foto

Katrin Begoin ist eigentlich wohlbehütet in der DDR aufgewachsen. Doch eines Tages wenden sich ihre Eltern wegen eines kleinen Problems an die DDR-Jugendhilfe. Sie wollen einfach nur einen Rat. Danach wird ihnen ihre Tochter weggenommen und in ein Jugendheim gesperrt. Die Eltern kämpfen darum, ihre Tochter wieder zu bekommen. Immer wieder flieht sie auch zu ihren Eltern, immer wieder wird sie zurück gebracht. Sie vermutet heute, dass ihre Eltern auf diese Weise unter Druck gesetzt werden sollten, mit der Stasi zu kooperieren. Die Heime werden schlimmer, weil sie sich auch zur Wehr setzt. Zum Schluss kommt sie in den geschlossenen Jugendwerkhof nach Torgau. Es ist der Ort, an dem der Wille der Jugendlichen endgültig gebrochen werden soll.

Nach vorsichtigen Schätzungen sollen etwa 120.000 Kinder in der DDR in Kinder- und Jugendheimen interniert gewesen sein. Manfred May leitet seit 2002 in Erfurt eine Beratungsstelle für Opfer der DDR-Heimerziehung. Aus vielen Gesprächen kennt er die grauenhaften Situationen in den DDR-Kinder- und Jugendheimen: Strafen, die bis zur völligen körperlichen Erschöpfung gingen, waren üblich. In einem Lager mussten die Jugendlichen Entengang mit einem Medizinball machen, in einem anderen Lager ein Brett mit ausgestreckten Armen halten. Selbst vor Folter schreckten die DDR-Erzieher nicht zurück: Lange vor Guantanamo gab es in DDR-Kinderheimen das sogenannte „U-Boot-Tauchen“ – das Untertauchen, bis das Opfer glaubt, dass es ertrinkt.

Auch gab es von den Erziehern geduldete und geförderte Misshandlungen der Jugendlichen untereinander. „Selbsterziehung“ wurde dies genannt. So wurde wegen eines individuellen Vergehens – meist nur eine Kleinigkeit wie eine falsch abgestellte Zahnbürste – eine ganze Gruppe bestraft, die dann wiederum den „Schuldigen“ intern schwer bestrafte.

Ähnliche Erziehungsmethoden gab es, laut May, in den 50er und 60er Jahren auch in westdeutschen Heimen. Allerdings wurden diese Methoden nach dem aufrüttelnden Dokumentarfilm „Bambule“ und einer großen öffentlichen Diskussion Mitte der siebziger Jahre verboten. In der DDR existierten die Jugendheime bis zur Wende weiter. Inwieweit die Existenz dieser Heime in der DDR-Bevölkerung bekannt war, ist allerdings umstritten.

Es gab zumindest in der DDR keine Öffentlichkeit für das Leiden der Heimkinder. Eine berufliche Perspektive außerhalb der Heime gab es oftmals auch nicht. In den Heimen bekamen die Jugendlichen zwar eine berufliche Ausbildung – aber außerhalb war diese meist nichts wert. Eine Klientin von May wurde zur Helferin in der Frischeiproduktion ausgebildet. Die Grunderfahrung der Kinder und Jugendlichen war es, dass es niemanden interessiert, was mit ihnen passiert.

Doch warum schweigen so viele Opfer auch heute noch? Diese Frage hat auch May beschäftigt. Seine Antwort: Es wurde den Jugendlichen systematisch eingeredet, dass all das ihre Schuld sei. Die Frage, warum ausgerechnet ihnen das passiert ist, beschäftigt sie ein Leben lang. Deshalb ist da auch eine große Angst vor dem Erzählen.

Diese Erfahrung begleitet sie ihr Leben lang. So erging es auch Kerstin Kuzia. Viele Jahre nach ihrem Heimaufenthalt bricht ihre ganze Vergangenheit wieder auf. Sie versucht, sich umzubringen und wird fünf Monate in eine geschlossene Anstalt eingewiesen. Sie plagen Schuldgefühle, dass sie ihre eigenen Kinder nie richtig wahrgenommen hat. Aber aus diesem Gefühl heraus beginnt sie zu kämpfen: „So eine menschenunwürdige Behandlung von Schutzbefohlenen darf es nie wieder geben!“ Sie weiß, dass sie die Erinnerung nicht mehr los wird. Immer wenn sie Stahltüren oder Schlüsselbundgeklapper hört, wird sie zusammenzucken. Heute berät auch sie Opfer der DDR-Heimerziehung in Berlin. Wenn sie auf Veranstaltungen geht, begleiten sie ihre Söhne oft.

Ihre Odyssee durch die DDR-Heime hatte für Kuzia begonnen, nachdem ihre Mutter sie zur Adoption freigegeben hatte, weil sie mit ihr nicht zurecht kam. Das war ein häufiger Einweisungsgrund. Oft waren es aber auch Belanglosigkeiten und kleinere Vergehen von Jugendlichen wie Schule-Schwänzen, die zur Einweisung führten. Aber es war auch Ausdruck des strategischen Umgangs der DDR mit sogenannten asozialen Milieus und war auch, wie im Fall von Katrin Begoin, eine Taktik der Staatssicherheit, um politische Gegner einzuschüchtern. Entschieden wurde über die Einweisung im Jugendhilfeausschuss. Dort arbeiteten auch „pädagogische Freiwillige“, unausgebildete Ehrenamtliche, die oftmals insbesondere das aufmüpfige Verhalten der Jugendlichen zu unterbinden suchten. Das Einweisungsverfahren war für Manfred May daher ein direkter Schulterschluss zwischen kleinbürgerlichem Denken und der Macht des Staates.

Die Kinder und Jugendlichen kamen zuerst in „Normalheime“. Allerdings waren die Kinder auch dort nicht vor Missbrauch sicher. Dann kamen sie in Spezialheime, in denen die Jugendlichen zu vollwertigen Mitgliedern der sozialistischen Gesellschaft umerzogen werden sollten. Als Zwischenstationen gab es Durchgangsheime, die wie Gefängnisse funktionierten. Dort wurden die Jugendlichen solange festgehalten, bis ein Platz in einem Spezialheim gefunden war. Der Schluss-Stein dieses Systems der Jugendhilfe war der geschlossene Jugendwerkhof Torgau. Dieses Jugendheim war eine Disziplinareinrichtung, die nur Margot Honecker persönlich unterstand und speziell auf die Umerziehung von 14- bis 18-Jährigen ausgerichtet war.

Wie es in Torgau war, kann Katrin Begoin genau beschreiben. Wenn man ankam, musste man zunächst stundenlang im Flur stehen. Man durfte niemanden anschauen, mit niemandem sprechen, sonst gab es Tritte und Schläge. Die Haare wurden, wie im Gefängnis, kahlgeschoren. Es gab einen Anfangsarrest, den man in einer Zelle mit einem Eimer als Toilette und einer hochklappbaren Pritsche als Bett verbrachte. Alles war auf das Zerstören des jugendlichen Willens ausgerichtet.

Das System der Schikanen war ausgefeilt: Später musste man sinnlose Meldungen auswendig lernen. Wenn man sie am nächsten Tag nicht komplett fehlerfrei aufsagen konnte, bekam man den ganzen Tag nichts zu essen. Privatsphäre gab es nicht: Die Wärter beobachteten die Jugendlichen überall. Auch auf Toilette. Dort gab es auch keine abgetrennten Kabinen: Alle Toiletten standen im offenen Raum nebeneinander.

Es gab viele Selbstmordversuche in Torgau. Der letzte Selbstmord fand 1988 statt. Der Jugendliche hatte sich am zweiten Tag seiner Haft aufgehängt. Er hatte nach dem Motto gehandelt: „Eh ihr mich hier zerbrecht, geh ich lieber selber!“ Begoin hat ihre langjährige Sprachlosigkeit mittlerweile auch künstlerisch verarbeitet. Sie hat Lieder über ihre Zeit in den DDR-Jugendheimen geschrieben. „Mauern“ heißt ein Lied. Es handelt von einem ähnlichen Fall: Ein Mädchen, das sich kurz vor ihrer Entlassung in Torgau umgebracht hat.

May freut sich darüber, dass auf diese Weise langsam eine Öffentlichkeit für ein vergessenes Kapitel der DDR-Geschichte gefunden wird. All die Stimmen, die jahrelang geschwiegen haben, beginnen nun langsam zu sprechen. Für diese Stimmen will er den Dolmetscher und Verstärker spielen. Auch in seiner Beratungsstelle konnte er eine stärkere Offenheit seiner Klienten feststellen – insbesondere seit die Geschehnisse in westdeutschen Heimen ab 2009 in der Öffentlichkeit vermehrt thematisiert wurden. Allerdings wurden die Opfer der DDR-Heimerziehung lange Zeit nicht anerkannt. Es war für die Opfer schwer zu beweisen, dass sie in den Heimen einer unmenschlichen Behandlung ausgesetzt waren. In nur etwa einem Prozent der Fälle konnten die Opfer gerichtlich rehabilitiert werden.

In diesem Jahr wurde nun überraschend ein Fonds bereitgestellt, um ehemalige Heimkinder in West und in Ost zu entschädigen. Die genaue Ausgestaltung des Fonds soll noch festgelegt werden. Manfred May hofft auf eine einfache Lösung, damit die Opfer nicht weiterhin aufwändig ihr Leiden vor Gericht beweisen müssen, um rehabilitiert und entschädigt zu werden.